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Tuesday, January 18, 2011

Beschleunigung

Der Prophet soll ja angeblich im eigenen Land wenig Gehör erhalten, vielleicht stieß ich also deswegen erst durch eine Kritik in Le Monde anlässlich seiner Übersetzung ins Deutsche auf Hartmut Rosas Beschleunigung - Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Mein Verständnis bzw Wissen großer Philosophen und Denker lässt gelinde gesagt an Tiefe missen. Abgesehen von einigen (literarischen obendrein) Sartre Texten, habe ich eigentlich bisher nur Politik- (Hobbes, Montesquieue, Publius) oder Wirtschaftswissenschaftler (Keynes, Krugman) gelesen. Hartmut Rosa war also in dieser Hinsicht eine Herausforderung für mich. Und auch wenn ich natürlich davon ausging, dass das Buch mir gefallen würde, sonst hätte ich es ja nicht bestellt, hätte ich nie gedacht, dass ich es als eine solche Bereicherung wahrnehmen würde.

Rosa präsentiert in seinem Werk einen theoretischen Erklärungskomplex, welcher aufzeigt warum uns in der Spät- oder Postmoderne lebenden die Zeit durch die Hände zu rinnen scheint. Diese weit verbreitete Wahrnehmung ist ja paradox als solche, da die Zeit "in nahezu allen Alltagspraktiken durch den immer raffinierteren Einsatz moderner Technik und organisatorischer Planung in immer größeren Mengen eingespart wird" und hierdurch ja eigentlich im Überfluss vorhanden sein müsste. Die Ursache für dieses Paradox ist laut Rosa in der kontinuierlichen Veränderungsbeschleunigung zu suchen, welche wiederum aus dem technischen Wandel, der Beschleunigung des sozialen Wandels sowie des Lebenstempos erwächst.

Die technische Beschleunigung erscheint hier als die am Einfachsten nachzuvollziehende Erkenntnis. Schnellere Transportmittel, ob Zug, Flugzeug oder Email, ermöglichen schnellere Kommunikations- und Reiseformen. Nun könnten wir diese Zeitersparnis auch zu Müßiggang nutzen, aber in Wirklichkeit verbringen wir mehr Zeit als je zuvor on the road oder am Kommunizieren. Schreiben mehr Emails als unsere Eltern Briefe und reisen auch öfter als diese.

Der sich immer schneller entwickelnde soziale Wandel wiederum schlägt sich im ständigen Partnerwechsel (serielle Monogamie, Stichwort: Lebensabschnittsgefährte), des Berufes (durchaus der Jobbranche) oder zB der Parteizugehörigkeit nieder. Während unsere Eltern (meistens) noch Zeit ihres Lebens eine Partei wählten und sich hierdurch definierten, einen Beruf, ja möglicherweise einen Arbeitgeber, hatten, ist rascher sozialer Wandel für uns wenig vermeidbar ja er wird kaum als solcher wahrgenommen, sondern einfach als Realität akzeptiert.

Schließlich wird die Beschleunigung des Lebenstempos messbar durch die "Steigerung der Zahl an Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit". Ob ich eine Pizza bestelle, einen power nap genieße oder beim Fernsehen meine Emails beantworte, die (Spät)moderne erlaubt es mir - ja zwingt es mir auf bei sonstiger Anschlussverlust- bzw Kontaktausschlussgefahr - ein höheres Pensum an tägliche Aufgaben zu erfüllen.

Diese drei Punkte verstärken sich einerseits gegenseitig - dh eine Beschleunigungserhöhung in einem reicht aus um die Taktzahl aller drei zu erhöhen - andererseits liegen ihnen drei exogene, unabhängig voneinander, Kräfte zugrunde. So beruhe die technische Beschleunigung auf der kapitalistischen Ordnung und dem darin inhärenten Wandel von der Produktion zwecks Bedarfsdeckung zu Mehrwertproduktion. Die Beschleunigung sozialen Wandels wiederum hänge mit der (post-)modernen Diskrepanz zwischen Welt- und Lebenszeit zusammen.

Die baldige Apokalypse des Jüngsten Gerichtes als Bestandteil des christlichen Glaubens hatte Weltzeit und Lebenszeit (fast) ebenbürtig erscheinen lassen, die Erosion des Glaubens in den westlichen (europäischen) Industrienationen brachte mit sich die Notwendigkeit alle Wünsche und Verlangen in die jeweils persönliche Lebenszeit zu quetschen.

Schließlich gibt es neben diesem kulturellen Grund noch einen strukturellen, welcher sich exogen auf die Erhöhung des Lebenstempos auswirkt. In einer Welt in welcher alles immer möglich ist bewirkt das Aufschieben einer Tätigkeit nur eine noch größere Entscheidungspalette in der Zukunft. Konkret gibt es immer weniger zeitlich festgelegte Rahmen und Strukturen. Ich kann um Mitternacht meine Arbeitsemails beantworten, auf der Arbeit diesen Blogeintrag verfassen, spät abends einkaufen gehen, jeden Abend Fussball gucken und durch das Internet oder Tivogeräten meine Lieblingsserien zu jeder Tages und Nachtzeit schauen. Jede dieser Tätigkeiten wirkt sich nun aber auf die anderen aus. Wenn ich den Anfang meines Fußballspiels verpasste und ihn mit technologischer Hilfe zeitversetzt gucke, schaffe ich es nicht mehr vor dem Schlafen gehen noch zu Bügeln wie ursprünglich geplant usw usf. Die zunehmende Temporalisierung der Komplexitäten setzen sich ins unendliche fort.

Die Kombination der Wechselwirkung und der exogenen Beschleunigungsfaktoren führen zu einem kontinuierlich höheren Maße an Beschleunigung der oben benannten drei Aspekte und damit zu einer stetig schnelleren Beschleunigung des Wandels als solchem.

Ein wunderbares, wenn auch ernüchterndes Buch. In welchem Maße bin ich selber in diesem Kreislauf gefangen? Schaffe ich es wenigstens ab und an ihm zu entkommen? Kann ich das denn ohne vollkommen zu entsagen und auf dem Land Tomaten anzubauen? Hat der Staat oder die Gesellschaft Mittel gegen diese Entwicklung in der Hand? Sollte er/sie das überhaupt?

Abschließend als kleiner persönlicher Höhepunkt des Buches ein Exkurs zur modernen Unterhaltungsindustrie im Allgemeinen und zum Fernsehen im Besonderen, welches Rosa in einer Art und Weise auseinandernimmt, wie ich das noch nie vorher gesehen hatte.
Da die Gesellschaftsstruktur aufgrund hoher Instabilität und Wandlungsraten Kurzfristigkeit prämiert und die Unterhaltungsindustrie jede Menge buchstäblich "attraktiver" Erlebnismöglichkeiten eröffnet, die "instant gratification" bei günstiger Input-Output-Relation bieten, werden für jene Aktivitäten, die auf kognitiv-abstrakter Ebene für wertvoller und befriedigender gehalten werden, aber große bzw. langfristige Zeit- und Energieinvestitionen erfordern sinkende Zeitressourcen aufgewendet.
Er entwickelt hier ein faszinierendes Modell von Kurz-Kurz, Lang-Kurz, Lang-Lang und Kurz-Lang Erlebnis-/Erinnerungsstrukturen. Während eine im Wartezimmer verbrachte Stunde lang erscheint, ist sie im Rückblick kaum vorhanden (Lang-Kurz). Eine Urlaubsreise ist kurzweilig während sie währt, schreibt sich aber (ok, je nach der Art der Reise) ausführlich in das Gedächtnis ein. Eine Krisenerfahrung (zB ein Autounfall) dauert nur einige Sekunden, scheint aber ewig zu dauern und dies bleibt auch so in der Erinnerung. Schließlich, ein spannender Krimi im Fernsehen geht schnell vorüber, da ein Höhepunkt den nächsten Jahr, erscheint aber im Rückblick kaum die Zeit zu reflektieren, die man auf ihn verwendet hat (wie ging der Tatort von vorletzter Woche noch mal?).

Es kommt bei diesen Erlebnis-/Erinnerungsstrukturen auf die Kontextualisierung an. Dh eine Reise am Strand und an der Hotelbar verbracht wird sicherlich eher in die Kurz-Kurz Struktur passen, während ein guter Spielfilm eingepasst in einen Informationsrahmen durchaus bleibende Erinnerungen hinterlassen kann und in die Kurz-Lang Rubrik aufrückt (sagen wir ein Basketballfilm vor langen Jahren mit einigen wenigen Freunden in einem leeren Kino gesehen und mit der soziologisch relevanten Geschichte des Scheiterns der US-Gesellschaft zu viele schwarze amerikanischer Jugendliche vor Kriminalität und Drogenkonsum zu bewahren: Soul in the Hole).

Der erschreckende jedoch aufschlussreiche Befund, den Rosa hierzu trifft, ist dass die meisten Menschen in Umfragen Kurz-Lang Aktivitäten als am Erstrebenswertesten beschreiben, sie sich jedoch hauptsächlich in Kurz-Kurz Aktivitäten ergehen. Rosa glaubt, dass hierfür strukturelle Aspekte der Hauptgrund sind, vielleicht hat er Recht, aber ich denke, dass freie Wahl oft auch eine Rolle spielt und der Einzelne hier sehr wohl eigene Prioritäten setzen kann.

Ein wirklich lohnenswertes Buch, welches einen dazu zwingt sich über sein eigenes (tägliches und allgemeines) Leben Gedanken zu machen und - hoffentlich - wenigstens einige von diesen auch umzusetzen.

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